Valentina Trützschler

 

Predigt im Gottesdienst zum Thema „Bergbau“ am 8. 6. 2002 in Fürstenhausen

 

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus

 

Liebe Gemeinde,

 

„Es mag sein, dass alles fällt,

dass die Burgen dieser Welt

um dich her in Trümmer brechen.“

 

Dieses Lied haben wir gerade gesungen.

 

Es ist nicht das erste Mal, dass ich dieses Lied als „Aufhänger“ für eine Predigt benutze. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere noch daran. Es war im letzten Jahr, genauer gesagt am 11. September. Ich habe mit diesem Lied eine Predigt eingeleitet, in denen ich die Burgen der Welt mit dem World Trade Center verglichen habe. Mit dem World Trade Center, denke ich, ist wirkliche eine der Burgen dieser Welt in Trümmer gebrochen. Burgen dieser Welt - das möchte ich auch heute zum Anlass nehmen:

 

Burgen sind das, worauf wir uns verlassen können.

Burgen strahlen Sicherheit aus.

Eine Burg steht für Sicherheit und Zuverlässigkeit.

Die Burgen, um die es heute geht, die haben sogar ganz bestimmte Namen.

Die Burgen, um die es heute geht, die heißen z.B. Kurt-Schumacherstr. soundso oder Sofienstr. soundso usw.

 

Und diese Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Ich kann jeden beliebigen Straßennamen in Fürstenhausen einsetzen. Es geht um die Häuser, in denen unsere Gemeinde wohnt.

 

Es geht um die Häuser, die sie teilweise selbst gebaut haben. Und die nun in Trümmer brechen.

 

Beim einen sind es erst ein paar kleine Risse, beim anderen sind es bereits große. Einige mussten sogar schon ausziehen, andere versuchen auszuhalten, und irgendwie mit dem Lärm und dem Nervenstress fertig zu werden.

 

Burgen sind das, worauf Menschen sich verlassen.

 

Und hier machen Menschen die Erfahrung, dass ihr privater, ihr häuslicher Bereich keinen Schutzraum mehr bietet. Der Engländer kennt das Sprichwort: „My home is my castle.“ Und diese Burgen, die gibt es hier in Fürstenhausen nicht mehr.

 

Doch es gibt auch andere Burgen, andere Dinge, auf die wir uns in unserer Gesellschaft verlassen.

 

Gerade in dieser von Arbeitslosigkeit bedrängten Welt verlassen sich Menschen auf ihren Arbeitsplatz. Sie verlassen sich darauf, dass sie den Beruf, den sie gelernt haben, ausüben können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie verlassen sich auf das sichere Gefühl, gebraucht zu werden, und darauf, ihren Beruf bis zum Ruhestand ausüben zu können.

 

Auch diese Burgen brechen in Trümmer. Angst macht sich breit. Angst vor der Zukunft. Immer öfter höre ich Stimmen voller Pessimismus und Verzweiflung.

 

Es mag sein, dass alles fällt,

dass die Burgen dieser Welt

um dich her in Trümmer brechen.

Halte du den Glauben fest,

dass dich Gott nicht fallen lässt:

er hält sein Versprechen.

 

Können wir das überhaupt noch glauben? Glauben, dass Gott wirklich seine Versprechen hält? Wenn alles um uns her wegbricht – gibt es da dann überhaupt noch etwas, worauf wir uns verlassen können?

 

Ich möchte Sie einladen, dieser Frage in ihrem Herzen nachzugehen. Gönnen wir uns eine Minute darüber nachzudenken, was in Trümmer bricht und was hält.

 

<Stille>

 

Ich weiß nicht was Ihnen eingefallen ist:

 

Ihre Familie vielleicht – vielleicht ist Ihre Familie das Einzige, das Sie noch hält und Ihnen Kraft gibt. Oder aber vielleicht ihre Erinnerungen. Vielleicht halten Sie sich nur noch an Ihren Erinnerungen fest, die Ihnen niemand mehr nehmen kann. Vielleicht denken Sie auch an andere Menschen, denen sie vertrauen konnten und können. Ich hoffe, dass jeder und jede etwas gefunden hat was trägt, was hält.

 

Wir teilen nun Steine aus.

Bitte nehmen Sie sich einfach einen.

Ganz gleich ob groß oder klein.

 

<Austeilen von Kieselsteinen>

 

Betrachten Sie ihn. Fassen Sie ihn an.

Spüren Sie, wie er schwer in Ihrer Hand liegt.

 

Ein Stein. Eigentlich etwas Totes.

Und doch können Steine zu ungeahntem Leben kommen:

Da gibt es zum Beispiel den Stein, den man auf andere werfen möchte,

oder es gibt den Stein, den man auf dem Herzen trägt.

Und von dem man wünscht, er würde einem vom Herzen fallen.

Ein Stein.

In Ihrer Hand.

 

Halten Sie ihn und lassen Sie den folgenden Predigttext auf sich wirken.

Ich lese ihn ganz langsam, damit Sie Ihren eigenen Gedanken nachgehen können.

Ich lese aus dem Buch des Predigers aus dem 3. Kapitel:

 

  1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

  2        geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;

      pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;

  3        töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;

      abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;

  4        weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;

      klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;

  5        Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;

      herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;

  6        suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;

      behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;

  7        zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;

      schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;

  8        lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;

      Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.

 

  9  Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.

10 Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.

11 Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.

 

Dieser Text wird oft auf Beerdigungen gelesen.

Er besagt, dass vor Gott alles seine Zeit hat:

 

Trauriges und Schönes.

Mühsames und Leichtes.

Bei Gott hat all dies Platz.

 

Die Steine, die wir am Liebsten auf andere werfen möchten, haben bei Gott Platz.

 

Von Streit, ja von Hass ist hier die Rede. Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: In der Bibel steht, dass Hass vor Gott seine Zeit hat. Da steht nichts von unterdrückter Wut oder gar von „In-sich-Hineinfressen“.

 

Gott verurteilt weder Zorn noch Hass, dies sind menschliche Gefühle. Vor Gott haben sie Platz. Auch die Steine, die wir auf dem Herzen haben und von denen wir wünschen, sie wären uns schon vom Herzen gefallen. Auch sie haben vor Gott Platz.

 

Klagen hat seine Zeit.

Wir dürfen vor Gott klagen.

Ja sogar ihn anklagen und fragen:

Warum Gott passiert uns das?

Warum lässt Du uns alleine?

 

Vor Gott gibt es Raum und Zeit für Klagen und für Tränen.

 

Ich möchte Sie nun bitten, in einer weiteren Minute der Stille diesen Steinen nachzugehen:

 

Denen, die wir auf andere werfen wollen,

und denen, die uns auf dem Herzen liegen.

 

<Stille>

 

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde

Gott will uns freimachen, von dem, was uns belastet.

Er will unseren Hass verwandeln, damit er uns nicht auffrisst.

Er will unsere Klage verwandeln, damit sie uns nicht resignieren lässt.

Gott will, dass wir alle Steine bei ihm loswerden.

Die, die wir werfen und die wir auf dem Herzen tragen.

 

Der Predigttext kann uns die Hoffnung vermitteln, dass immer beides zusammengehört:

 

Leben und Sterben,

Pflanzen und Ausreißen,

Hass und Liebe.

 

Für all dies ist bei Gott Raum - nicht nur für die eine, die anscheinend gute Seite.

Vor Gott dürfen wir aussprechen, was wir fühlen.

Wir dürfen sagen, was wir denken.

Das muss nicht laut geschehen, das kann auch ganz leise sein.

Gott hört uns zu, weil bei ihm alles seine Zeit hat.

Vor ihm sind wir nicht ohnmächtig, sondern geliebt.

Vor ihm sind wir nicht schwach, sondern stark.

Nicht aufgrund irgendwelcher Leistung - sondern allein aus seiner Liebe.

 

Wenn Sie heute nach diesem Gottesdienst nach Hause gehen, dann steht am Ausgang ein Korb.

Wenn Sie das Gefühl haben, Ihnen ist vielleicht ein kleiner Teil des Steines vom Herzen gefallen, dann legen Sie ihren Stein in den Korb zurück.

Oder wenn Sie das Gefühl haben, meine Wut oder mein Zorn sind ein wenig gelindert, dann legen Sie Ihren Stein in den Korb zurück.

Wenn dies nicht der Fall ist, dann nehmen Sie Ihren Stein mit in die kommende Zeit.

 

Nehmen Sie ihn in die Hand, und wenn Sie Ihn werfen wollen, denken Sie daran, Ihre Wut hat vor Gott Raum und Zeit.

Und wenn Sie denken, die Last auf dem Herzen ist zu groß, dann nehmen Sie den Stein in die Hand und denken Sie daran, vor Gott, können Sie Ihre Klagen und Ihre Probleme aussprechen.

 

Amen.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus Amen.