Liebe Gemeinde,
„Es mag sein, dass alles
fällt,
dass die Burgen dieser Welt
um dich her in Trümmer
brechen.“
Dieses Lied haben wir gerade gesungen.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich dieses Lied als
„Aufhänger“ für eine Predigt benutze. Vielleicht erinnert sich der eine oder
die andere noch daran. Es war im letzten Jahr, genauer gesagt am 11. September.
Ich habe mit diesem Lied eine Predigt eingeleitet, in denen ich die Burgen der
Welt mit dem World Trade Center verglichen habe. Mit dem World Trade Center,
denke ich, ist wirkliche eine der Burgen dieser Welt in Trümmer gebrochen.
Burgen dieser Welt - das möchte ich auch heute zum Anlass nehmen:
Burgen sind das, worauf wir
uns verlassen können.
Burgen strahlen Sicherheit
aus.
Eine Burg steht für
Sicherheit und Zuverlässigkeit.
Die Burgen, um die es heute
geht, die haben sogar ganz bestimmte Namen.
Die Burgen, um die es heute
geht, die heißen z.B. Kurt-Schumacherstr. soundso oder Sofienstr. soundso usw.
Und diese Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Ich
kann jeden beliebigen Straßennamen in Fürstenhausen einsetzen. Es geht um die
Häuser, in denen unsere Gemeinde wohnt.
Es geht um die Häuser, die sie teilweise selbst
gebaut haben. Und die nun in Trümmer brechen.
Beim einen sind es erst ein paar kleine Risse, beim
anderen sind es bereits große. Einige mussten sogar schon ausziehen, andere
versuchen auszuhalten, und irgendwie mit dem Lärm und dem Nervenstress fertig
zu werden.
Burgen sind das, worauf Menschen sich verlassen.
Und hier machen Menschen die Erfahrung, dass ihr
privater, ihr häuslicher Bereich keinen Schutzraum mehr bietet. Der Engländer
kennt das Sprichwort: „My home is my castle.“ Und diese Burgen, die gibt es
hier in Fürstenhausen nicht mehr.
Doch es gibt auch andere Burgen, andere Dinge, auf
die wir uns in unserer Gesellschaft verlassen.
Gerade in dieser von Arbeitslosigkeit bedrängten
Welt verlassen sich Menschen auf ihren Arbeitsplatz. Sie verlassen sich darauf,
dass sie den Beruf, den sie gelernt haben, ausüben können, ohne ein schlechtes
Gewissen zu haben. Sie verlassen sich auf das sichere Gefühl, gebraucht zu
werden, und darauf, ihren Beruf bis zum Ruhestand ausüben zu können.
Auch diese Burgen brechen in Trümmer. Angst macht
sich breit. Angst vor der Zukunft. Immer öfter höre ich Stimmen voller
Pessimismus und Verzweiflung.
Es mag sein, dass alles
fällt,
dass die Burgen dieser Welt
um dich her in Trümmer
brechen.
Halte du den Glauben
fest,
dass dich Gott nicht fallen
lässt:
er hält sein Versprechen.
Können wir das überhaupt noch glauben? Glauben, dass
Gott wirklich seine Versprechen hält? Wenn alles um uns her wegbricht – gibt es
da dann überhaupt noch etwas, worauf wir uns verlassen können?
Ich möchte Sie einladen, dieser Frage in ihrem
Herzen nachzugehen. Gönnen wir uns eine Minute darüber nachzudenken, was in
Trümmer bricht und was hält.
<Stille>
Ich weiß nicht was Ihnen eingefallen ist:
Ihre Familie vielleicht – vielleicht ist Ihre
Familie das Einzige, das Sie noch hält und Ihnen Kraft gibt. Oder aber
vielleicht ihre Erinnerungen. Vielleicht halten Sie sich nur noch an Ihren
Erinnerungen fest, die Ihnen niemand mehr nehmen kann. Vielleicht denken Sie
auch an andere Menschen, denen sie vertrauen konnten und können. Ich hoffe,
dass jeder und jede etwas gefunden hat was trägt, was hält.
Wir teilen nun Steine aus.
Bitte nehmen Sie sich
einfach einen.
Ganz gleich ob groß oder
klein.
<Austeilen von Kieselsteinen>
Betrachten Sie ihn. Fassen Sie ihn an.
Spüren Sie, wie er schwer in Ihrer Hand liegt.
Ein Stein. Eigentlich etwas Totes.
Und doch können Steine zu ungeahntem Leben kommen:
Da gibt es zum Beispiel den Stein, den man auf
andere werfen möchte,
oder es gibt den Stein, den man auf dem Herzen
trägt.
Und von dem man wünscht, er würde einem vom Herzen
fallen.
Ein Stein.
In Ihrer Hand.
Halten Sie ihn und lassen Sie den folgenden
Predigttext auf sich wirken.
Ich lese ihn ganz langsam, damit Sie Ihren eigenen
Gedanken nachgehen können.
Ich lese aus dem Buch des Predigers aus dem 3.
Kapitel:
1 Ein
jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
2 geboren
werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was
gepflanzt ist, hat seine Zeit;
3 töten
hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine
Zeit;
4 weinen
hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine
Zeit;
5 Steine
wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen
hat seine Zeit;
6 suchen
hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat
seine Zeit;
7 zerreißen
hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine
Zeit;
8 lieben
hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine
Zeit.
9 Man
mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
10 Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen
gegeben hat, dass sie sich damit plagen.
11 Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch
hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen
kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.
Dieser Text wird oft auf Beerdigungen gelesen.
Er besagt, dass vor Gott alles seine Zeit hat:
Trauriges und Schönes.
Mühsames und Leichtes.
Bei Gott hat all dies Platz.
Die Steine, die wir am
Liebsten auf andere werfen möchten, haben bei Gott Platz.
Von Streit, ja von Hass ist hier die Rede. Das
müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: In der Bibel steht, dass
Hass vor Gott seine Zeit hat. Da steht nichts von unterdrückter Wut oder gar
von „In-sich-Hineinfressen“.
Gott verurteilt weder Zorn noch Hass, dies sind
menschliche Gefühle. Vor Gott haben sie Platz. Auch die Steine, die wir auf dem
Herzen haben und von denen wir wünschen, sie wären uns schon vom Herzen
gefallen. Auch sie haben vor Gott Platz.
Klagen hat seine Zeit.
Wir dürfen vor Gott klagen.
Ja sogar ihn anklagen und
fragen:
Warum Gott passiert uns das?
Warum lässt Du uns alleine?
Vor Gott gibt es Raum und
Zeit für Klagen und für Tränen.
Ich möchte Sie nun bitten, in einer weiteren Minute
der Stille diesen Steinen nachzugehen:
Denen, die wir auf andere
werfen wollen,
und denen, die uns auf dem
Herzen liegen.
<Stille>
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben
unter dem Himmel hat seine Stunde
Gott will uns freimachen, von dem, was uns belastet.
Er will unseren Hass verwandeln, damit er uns nicht
auffrisst.
Er will unsere Klage verwandeln, damit sie uns nicht
resignieren lässt.
Gott will, dass wir alle Steine bei ihm loswerden.
Die, die wir werfen und die wir auf dem Herzen
tragen.
Der Predigttext kann uns die Hoffnung vermitteln,
dass immer beides zusammengehört:
Leben und Sterben,
Pflanzen und Ausreißen,
Hass und Liebe.
Für all dies ist bei Gott Raum - nicht nur für die
eine, die anscheinend gute Seite.
Vor Gott dürfen wir aussprechen, was wir fühlen.
Wir dürfen sagen, was wir denken.
Das muss nicht laut geschehen, das kann auch ganz
leise sein.
Gott hört uns zu, weil bei ihm alles seine Zeit hat.
Vor ihm sind wir nicht ohnmächtig, sondern geliebt.
Vor ihm sind wir nicht schwach, sondern stark.
Nicht aufgrund irgendwelcher Leistung - sondern
allein aus seiner Liebe.
Wenn Sie
heute nach diesem Gottesdienst nach Hause gehen, dann steht am Ausgang ein
Korb.
Wenn Sie das Gefühl haben, Ihnen ist
vielleicht ein kleiner Teil des Steines vom Herzen gefallen, dann legen Sie
ihren Stein in den Korb zurück.
Oder wenn Sie
das Gefühl haben, meine Wut oder mein Zorn sind ein wenig gelindert, dann legen
Sie Ihren Stein in den Korb zurück.
Wenn dies
nicht der Fall ist, dann nehmen Sie Ihren Stein mit in die kommende Zeit.
Nehmen Sie
ihn in die Hand, und wenn Sie Ihn werfen wollen, denken Sie daran, Ihre Wut hat
vor Gott Raum und Zeit.
Und wenn Sie denken, die Last auf dem Herzen ist zu groß, dann nehmen
Sie den Stein in die Hand und denken Sie daran, vor Gott, können Sie Ihre
Klagen und Ihre Probleme aussprechen.
Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all
unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus Amen.